Gefühlsfoto

Meine Lieben, die Urlaubssaison und somit Reisezeit steht vor der Tür und da dachte ich mir, neben Erinnerungen und Ermahnungen an euch, zu kontrollieren, ob nicht inzwischen der Reisepass abgelaufen ist oder eine Liste mit euch zu erstellen, was alles in die Reiseapotheke gehört, bereite ich euch doch lieber auf meine ganz spezielle Art auf diese schönsten Wochen des Jahres vor.

Der Koffer ist gepackt, das Gefühl der Vorfreude lässt unser Herz höherschlagen und hat uns bereits die eine oder andere schlaflose Nacht gekostet, da wir es nicht mehr erwarten können, bis es endlich losgeht. Der Akku der Kamera ist aufgeladen und Speicherkarte und Objektiv gerichtet, denn alles wartet nur noch auf den heißersehnten Urlaub.
Natürlich haben wir uns akribisch auf diesen Trip vorbereitet, kennen alle Fakten zu den Sehenswürdigkeiten, zu den landeseigenen Gepflogenheiten, haben eine Liste mit Besonderheiten erstellt, die wir alle entdecken, erleben und ausprobieren möchten. Vielleicht erwartet uns ein Reiseziel, das schon unser Leben lang auf der Reisewunschliste steht. Wir haben uns ausgemalt, wie es sein wird, wenn dieser Wunschtraum endlich in Erfüllung geht.Vielleicht ist es auch gar keine großartige Fernreise, vielleicht ist es ein erholsamer Badeurlaub am Lieblingsstrand oder eine Stadt, die wir nicht zum ersten Mal besuchen. Vielleicht auch Urlaub in der Heimat. Im Grunde ist es egal, wo wir uns befinden; wir reisen an, stellen unsere Koffer im Hotelzimmer ab, packen die Kamera und den Reiseführer aus, und dann geht es endlich los. Da ist er, der erste Punkt auf unserer Liste, das erste Ziel, das erste Fotomotiv. Wir sind gerade erst davor angekommen, schon haben wir die Linse oder das Handy vor dem Auge und drücken ab. Und drücken ab. Und drücken ab.

Dreihundertfünfzig Klicks später sind wir noch immer nicht zufrieden. Wir wechseln die Perspektive, probieren so lang herum, bis wir es haben, das perfekte Foto, die perfekte Erinnerung an unser Traumziel, an diesen besonderen Tag. Alles im Kasten, abgespeichert für die Ewigkeit. Punkt abgehakt. Blick auf die Uhr. Wir haben einen straffen Zeitplan, auf zum Auto, zur U-Bahn, zum Zug, zum nächsten Punkt auf unserer Liste, zum nächsten Fotomotiv, zur nächsten Erinnerung, die abgespeichert werden will.
Wir drücken ab.
Und drücken ab.
Und drücken ab.

Stopp.
Stehen geblieben!
Spulen wir zurück, alles auf Anfang.

Es ist der Moment, auf den du dich seit Wochen, vielleicht sogar Monaten gefreut hast. Es ist der Moment, der dich viel, viel Geld gekostet hat, der dich zusätzlich die sowieso viel zu wenigen Urlaubstage kostet. Jetzt ist genau dieser Moment. Von mir aus, mache deine Fotos, wenn es denn sein muss auch fünfhundert (kleiner Tipp meinerseits, wenn das zehnte Foto noch nichts ist, dann wird es selten besser – Erfahrungswerte), aber dann schaltest du die Kamera aus, denn ja, jetzt ist der Moment gekommen, für das eigentliche Foto. Für das wichtigste Foto überhaupt.
Ist die Kamera ausgeschaltet?
Hast du sie wieder sicher verstaut?
Ja?

Dann komme jetzt richtig an.
Schließe die Augen, wenn du magst, und dann mache das Foto, das tausendmal mehr wert ist als jedes abgespeicherte auf deiner Speicherkarte. Benutze jeden deiner Sinne für genau dieses Foto.
Dein Gefühlsfoto!

Hörst du es?
Hörst du dieses Geflecht aus Stimmen aus aller Welt. Vielleicht ist es ein italienischer Singsang, vielleicht ist es dieses blumige Französisch oder ein exotischer Wortgesang, von dem du nicht sagen kannst, woher er stammt. Da sind Männerstimmen, Frauenstimmen, junge und alte Stimmen, ein Kinderlachen, ein erschrockenes Jauchzen, ein glückliches Seufzen. Hufgeklapper, Geschlurfe, Geschabe über rauen Beton. Gläserklirren, laute Rufe, leises Flüstern – Lebensgeräusche überall.

Und riechst du es?
Woher kommt dieser Geruch. Von dem Hot Dog Stand? Von dem Waffelverkäufer? Oder ist es die Sonnenmilch, mit der du dich am Morgen eingecremt hast? Der Geruch von Beton, der in der Hitze flirrt. Der Duft eines fruchtigen Cocktails in einem der Straßencafés an denen du entlangflanierst. Kaffeeduft, Süßes, Deftiges, Bekanntes, Fremdes. Mache die Augen auf und schaue dich um. Hörst du es, riechst du es, siehst du es?

Ja, siehst du es?
Dieses Besondere, von dem du immer geträumt hast, es einmal mit eigenen Augen zu sehen. Lege den Kopf in den Nacken, drehe dich um die eigene Achse, schaue nach oben und nach unten, damit du nichts von dem verpasst, was du schon immer einmal sehen wolltest. Erleben wolltest. Bestaunen wolltest. Fühlen wolltest.

Denn genau, spürst du es?
Wie sich der von der Sonne erhitzte Stein anfühlt. Dieser Stein, der ein winzigkleiner Teil dieses Gebäudes, der Stadt, des Augenblicks darstellt. Ein winzigkleiner Stein, der seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden hier existiert. Wie rau er sich anfühlt, wie warm, wie staubig, wie gewöhnlich, wie ungewöhnlich. Ein Stein wie viele, aber hier, an diesem Ort, ist es ein besonderer Stein. Es ist ein Baustein deiner Erinnerungen.
Vielleicht setzt du dich auf einen Bordstein, eine Stufe, einfach auf den Boden. Ein Kieselstein pikst dich in den Schenkel, die Hitze dringt durch dein luftiges Sommerkleid, der Wind spielt mit deinen Haaren. Eine Strähne kitzelt deine nackte Schulter. Die Schulter, die nach Sonnenöl riecht, nach fruchtigem Parfum, nach Kokos, nach Sommer, nach Urlaub.
Nach Leben.

Schmeckst du es?
Ja, kannst du sie schmecken, diese Abenteuerlust, die nur hier am Ziel deiner Träume so besonders schmeckt.
Für jeden schmeckt sie anders, aber ja, man kann sie schmecken, wenn man seine Fantasie spielen lässt.
Wenn man dabei ist, das wichtigste Foto überhaupt zu erstellen.
Das Gefühlsfoto.

Du wirst es niemals jemandem zeigen können. Du wirst es nicht auf Facebook oder Instagram posten können. Du wirst es nicht in ein Fotobuch stecken und doch, es wird immer genau dort sein. Dort wo du es haben willst. Denn du trägst es immer bei dir.

Wir reisen um die Welt, vielleicht reisen wir auch “nur” durch die Heimat, immer dabei das Handy, die Kamera – jederzeit den Finger am Auslöser. Wir knipsen und posieren für das ultimative Erinnerungsbild und vergessen viel zu oft auf das einzig wichtige Bild, das einzige wahre Foto, das Gefühlsfoto.

Ich liebe es, mit meiner Kamera unterwegs zu sein. Es gibt nicht vieles, das mich so erfüllt, als zu fotografieren. Neben dem Schreiben ist es meine größte Leidenschaft. Aber ich habe für mich Techniken entwickelt, wie ich meine Fotos auf der Speicherkarte abspeichern kann und trotzdem nicht auf die wichtigsten Fotos vergesse. Ich habe mir selbst antrainiert, dass ich danach, wenn die Kamera weggepackt ist, instant in den Gefühlsmodus umschalten kann. Vor Jahren habe ich noch länger dafür gebraucht, jetzt kann ich von einer Sekunde auf die andere switchen.
Es ist keine Magie und auch kein Geheimrezept, aber je öfter man es macht, desto einfacher gelingt es einem. Desto mehr ist man im Moment, kann ihn auch genau so erleben – so pur, so wahr, so unvergesslich.

Am leichtesten fällt es einem, wenn man tatsächlich die Augen schließt. Man überlegt nicht, was man an diesem Tag noch alles sehen will, man zuckt mit den Schultern und denkt sich stattdessen, wenn ich den Rest des Tages hier stehen bleibe, ist es auch gut. Am Anfang, wenn es noch nicht von selbst passiert, geht man am besten jeden seiner Sinne durch. Was hören die Ohren, was riecht die Nase, was spüren meine Finger, meine Füße, was schmecke ich. Irgendwann muss man sich nicht mehr darauf konzentrieren, dann geht es ganz von selbst. Aber trotzdem sollte man nie damit aufhören, sein Gefühlsfoto bewusst zu erstellen.
Genau, Bewusstsein, das ist es, was zählt. Ein Urlaub geht so schnell vorbei, deshalb sollten wir ihn so bewusst wie möglich erleben. Um etwas mit nach Hause nehmen zu können. Etwas, das für immer bleibt, dein Gefühlsfoto!
DAS sind Bilder, die für die Ewigkeit bleiben. Alles andere ist Papier oder digitaler Müll, der verblasst. Das Gefühlsfoto – dein Gefühlsfoto – bleibt für die Ewigkeit.

eine Lieben, die Reisesaison steht vor der Tür. Ich weiß, ich habe euch jetzt keinen besonderen Trick gezeigt oder etwas erzählt, das man nicht sowieso selbst weiß, aber seid mal ehrlich, wie oft vergisst man darauf, einen Moment tatsächlich bewusst zu erleben. Wie leicht lassen wir uns ablenken von den vielen anderen Menschen um uns herum, von dem Drang, das perfekte Foto zu schießen, von den Reklametafeln rundherum, die einen zu sich locken, von dem dichten Zeitplan, den man sich selbst auferlegt hat, um nichts zu verpassen.
Ich bin in meinem Leben schon sehr viel gereist, habe früher akribisch Pläne aufgestellt, um ja alles zu sehen und kann mich heute an kaum etwas erinnern. Seit ich meine Reisen richtig erlebe, sind sie viel realer und lebhafter in meiner Erinnerung. Wenn ich ein Bild von etwas sehe, verschwimmt es automatisch mit dem Gefühlsfoto, das ich angefertigt habe, und ist so tausendmal mehr wert als hundert Schnappschüsse, die man nebenher knipst.
Probiert es aus, erlebt euren Urlaub so bewusst wie nur möglich. Schließt die Augen und hört, riecht, spürt, schmeckt, wie sich Leben anfühlt.
Und dann erzählt mir davon, ob es euch gelungen ist!
Alles Liebe, love&peace,